Am 2. Juni 2025 unternahm der Jahrgang 2022 des Präsenzstudiengangs Religions- und Gemeindepädagogik und Soziale Arbeit der CVJM Hochschule Kassel im Rahmen des Modul V8 Migration und Inklusion einen historischen Stadtrundgang unter dem Thema Antirassismus und Erinnerungskultur. Ziel war es, Orte in Kassel aufzusuchen, an denen sich Vergangenheit, Ausgrenzung und Widerstand verdichten – und zu fragen, was diese Orte heute für die Soziale Arbeit bedeuten.
Geleitet wurde die Exkursion von einem Historiker, der seit Jahren antirassistische Arbeit leistet und sich auch mit Kassels Geschichte beschäftigt hat. Er machte deutlich, dass die Stadt im Zweiten Weltkrieg stark zerstört wurde und bis heute vergleichsweise wenig sichtbare Orte des Gedenkens aufweist. Der Rundgang ermöglichte eine Spurensuche – durch eine Stadt, deren Geschichte zwischen Arbeiterbewegung, jüdischem Leben, NS-Terror und Migration verläuft.
Stationen des Erinnerns
Am Rathaus stand die Geschichte des Aschrott-Brunnens im Mittelpunkt – ein Geschenk des jüdischen Mäzens Sigmund Aschrott, das 1939 auf Betreiben des NS-Juristen Roland Freisler entfernt wurde. Erst Jahrzehnte später entstand hier ein Mahnmal vom Künstler Horst Hoheisel, das den einstigen Brunnen symbolisch „nach unten“ versenkt – als schmerzhaftes Erinnern an den Umgang mit jüdischer Geschichte in Kassel.
Vor der Karlskirche, einem hugenottischen Sakralbau aus dem 18. Jahrhundert, wurde deutlich, wie sehr Kassel von Migration geprägt war – und welch kulturellen Reichtum Geflüchtete einst mitbrachten.
Ein kaum beachteter Parkplatz markiert den einstigen Standort der Gaststätte „Bürgersäle“, von der SA als Sturmlokal genutzt. Hier wurde der jüdische Rechtsanwalt Dr. Max Plaut 1933 schwer misshandelt und verstarb in der Folge als erstes jüdisches Opfer der Nationalsozialisten in Kassel – ein Schicksal, das exemplarisch für den Terror jener Jahre steht.
Der Friedrichsplatz – eine Skulptur „Die Fremden“ von Thomas Schütte (1992) erinnert heute an Migration und Flucht und stellt einen stillen Kontrast zum propagandistischen Missbrauch des Platzes während der NS-Zeit dar.
An der ehemaligen Garnisonskirche, heute ein gehobenes Restaurant, wurde das Spannungsverhältnis von Denkmalschutz, Kommerzialisierung und Geschichtsvergessenheit spürbar. In den Kellern unterhalb des Gebäudes kamen 1943 rund 600 Menschen ums Leben – die Erinnerung daran bleibt bis heute fragmentarisch.
Die Martinskirche im einstigen Arbeiterviertel der „Roten Altstadt“ wurde nach ihrer Zerstörung bewusst modern wiederaufgebaut – als Zeichen des Bruchs mit der Vergangenheit. Der Platz vor der Kirche war Ort antifaschistischen Widerstands, aber auch nationalsozialistischer Gewaltinszenierung.
Abschließend wurde die Gruppe zur ehemaligen Synagoge geführt – einst eine der größten im Deutschen Reich. Sie wurde am 7. November 1938 zerstört, bereits vor der Reichspogromnacht. Die Geschichte ihrer Auslöschung (erst 1965/2000 wiederaufgebaut) und die Verwüstung weiterer zentraler Orte jüdischen Lebens in Kassel zeigen auf bedrückende Weise, wie konsequent jüdisches Leben aus dem Stadtbild getilgt wurde.
Erinnerung als soziale Praxis
Der Rundgang bot nicht nur historische Information, sondern eröffnete Räume der Reflexion: Welche Verantwortung ergibt sich aus Geschichte für das eigene professionelle Handeln? Wie wird Erinnerung zur sozialen Praxis? Die Exkursion sensibilisierte dafür, dass antirassistische und menschenrechtsorientierte Soziale Arbeit stets auch in historischem Bewusstsein gründet. Oder, wie es der Rundgangsleiter formulierte:„Geschichte hat noch etwas mit uns zu tun – sonst vergessen wir die Traumata der Menschen.“
Der Rundgang zeigte, dass man Orte des Erinnerns und des Perspektivwechsels auch heute noch finden kann - wenn man sich nur auf den Weg macht. Gehen Sie selbst doch auch mal auf Spurensuche – in Kassel oder Ihrer eigenen Stadt. Geschichte zeigt sich oft dort, wo wir sie nicht erwarten – man muss nur hinschauen.
Text: Johanna Othzen; Bilder: Lilija Willer-Wiebe
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