Dabeibleiben: Was hält Menschen in Kirche?

Was hält Menschen in der Kirche?

Das Forschungsprojekt „Dabeibleiben“, das von Prof. Dr. Andreas Rauhut und Dr. Katja Hericks verantwortet wird, untersucht, was Menschen in ihrer Zugehörigkeit zu Kirche bestärkt und was vor Ort dafür geleistet werden kann, um diese Zugehörigkeit zu stärken. Im Interview mit den beiden Verantwortlichen ging es deshalb um die Forschungsschwerpunkte und erste – überraschende – Ergebnisse.

Andreas, Katja, was hat euch dazu bewogen, wissenschaftlich zu erforschen, warum junge Menschen in Kirche verbleiben wollen?

Prof. Dr. Andreas Rauhut (AR): Mich beschäftigt seit Jahren die Frage, wie Kirche in einer zunehmend säkularen Gesellschaft vital bleiben kann. Wie können Menschen das Evangelium, also die gute Nachricht von der segnenden und rettend-heilenden Gegenwart Gottes in für sie nachvollziehbarer Art und Weise erfahren? In der Pastoralpraxis wie auch in der Forschung fällt auf, dass wir sehr viel darüber wissen, warum Menschen austreten – aber erstaunlich wenig darüber, warum sie bleiben.

Dr. Katja Hericks (KH): Aus institutionssoziologischer Sicht ist es aber nicht mehr selbstverständlich in einer Kirche zu sein und zu bleiben. Das heißt, das Bleiben ist heute erklärungsbedürftig geworden. In unserer Forschung gehen wir deswegen davon aus, dass Mitgliedschaft eine bewusste oder zumindest eine sozial zu rechtfertigende Entscheidung ist. Uns interessiert deshalb weniger die Austrittsdynamik, sondern die Stabilisierung der Mitgliedschaft.

AR: Mit dem Projekt „Dabeibleiben“ wollen wir verstehen, welche Formen der Zugehörigkeit Menschen brauchen, um Kirche als für sich bedeutsam zu erleben. Das baut auf meiner letzten Studie auf, in der sich herausgeschält hat, dass Zugehörigkeit weit komplexer ist als die formale Mitgliedschaft. Jetzt wollen wir nachhaken und verstehen, wie sich Bleibende zugehörig fühlen. 

KH: Das gilt gerade dann, wenn sie wenig auf die ‚Dienstleistungen‘ von Kirche zurückgreifen.  Die Untersuchung richtet sich vor allem auf junge Erwachsene. Wir fokussieren da zwei Gruppen: diejenigen, die am Anfang ihres Berufslebens stehen und sich damit auseinandersetzen, ob sie Kirchensteuern zahlen wollen und diejenigen, die kirchliche Hochzeit und Kindstaufen schon hinter sich haben, und in einer Lebensphase sind, in der die ‚Services‘ der Kirche nicht mehr so interessant, aber Geld und Zeit knapp sind.

AR: Aus der Forschung wissen wir, dass das Lebensphasen sind, in denen Kirchlichkeit oft abnimmt. Und wir wollen untersuchen, wie können Parochien – also die örtlichen Kirchengemeinden – Zugehörigkeit für diese Personengruppen gestalten und wie müssen sie sie „dosieren“: Wieviel persönliche Ansprache, Gemeinschaft oder spirituelle Teilhabe sind notwendig, damit sich Menschen als Teil ihrer Kirche empfinden, aber wann wird es auch als einengend empfunden? Uns fasziniert an dieser Forschung, dass sie theologisch relevant ist und zugleich unmittelbar an kirchliche Praxis anschließt.

Welche Kirchenkreise und Dekanatsbezirke machen als Kooperationspartner mit und warum habt ihr gerade diese ausgewählt?
KH: Die Auswahl folgt einer bewusst kontrastierenden Logik. Uns interessiert, wie sich gelebte Zugehörigkeit in unterschiedlichen kirchlichen Milieus ausprägt – in städtischen, ländlichen, säkularen oder traditionell protestantischen bzw. katholischen Kontexten. Kontrastierung ist für qualitative Sozialforschung ein sehr wichtiges Instrument, um generalisierbare Aussagen zu bekommen – also das Äquivalent zur Repräsentativität der quantitativen Forschung. Wenn sich ein Muster immer wieder und über die unterschiedlichsten Kontexte hinweg zeigt, dann kann es als allgemeines Muster gelten. 

AR: Konkret bedeutet das: Wir arbeiten in dem Projekt mit fünf Kooperationspartnern zusammen: dem Kirchenkreis Berlin-Stadtmitte, dem Kirchenkreis Oderland-Spree, dem Dekanatsbezirk Hanau, dem Dekanatsbezirk Hameln-Pyrmont und dem Dekanatsbezirk Weilheim. Die Berliner Kirchenkreise stehen für eine urbane und teils postchristliche Umgebung, in der kirchliche Bindung stark individualisiert ist. Hanau und Hameln-Pyrmont repräsentieren westdeutsche Regionen mit stabilen, aber zunehmend herausgeforderten Gemeindestrukturen. Das Dekanat Weilheim bringt die Perspektive einer katholisch geprägten Diaspora ein, in der evangelisches Gemeindeleben eine Minderheitenerfahrung ist. Gemeinsam bilden diese fünf Standorte ein Spektrum, das es erlaubt, die Prozesse von Zugehörigkeit und Interaktion unter sehr verschiedenen Bedingungen zu vergleichen und damit können dann auch die Ergebnisse für sehr verschiedene Parochien anschlussfähig sein.

Was hat euch in der Anbahnung des Forschungsprojekts besonders überrascht oder auch irritiert?

AR: Überrascht hat mich, wie groß das Interesse an dieser Fragestellung ist – sowohl auf kirchenleitender Ebene als auch in den Gemeinden selbst. Viele Verantwortliche spüren intuitiv, dass es nicht reicht, neue Formate oder Veranstaltungen zu entwickeln; entscheidend ist, ob Menschen sich in ihrer Kirche wiederfinden. Zugleich war es irritierend, dass es kaum empirische Grundlagen gibt, um dieses „Dabeibleiben“ wirklich zu verstehen. Wir wissen aus bisherigen Studien viel über Neuzugänge und Austritte, aber kaum etwas über die große, stille Mitte: die Bleibenden.
Ein zweiter überraschender Moment war methodischer Natur: Wenn man Zugehörigkeit erforschen will, merkt man schnell, dass sie nicht einfach beobachtbar ist. Sie entsteht in Interaktion, in Sinnzuschreibungen, in der persönlichen Deutung von Kirche. Deshalb haben wir uns für ein qualitatives, exploratives Design entschieden, das diese subjektiven Prozesse ernstnimmt. Dass Zugehörigkeit also ein „dosierbares“ Gefühl ist – mal stärker, mal schwächer, mal rational begründet, mal emotional getragen – das war für mich selbst ein wichtiger Erkenntnisschritt.

KH: Der methodische Teil ist für mich als Sozialforscherin natürlich nicht so überraschend. Ich habe auf der anderen Seite sehr viel inhaltlich Neues erfahren. Andreas ist eine wandelnde Bibliothek, oder vielleicht sollte man eher sagen, ein natürliches ChatGPT mit deutlich geringerer Fehleranfälligkeit, weil er sehr viel Wissen nicht nur aus der praktischen Theologie einbringt. Ich bin zwar in meiner alt-katholischen Kirche auch sehr engagiert, aber Laiin. Und als Organisationssoziologin blicke ich auf Kirche ganz anders. Ich würde sagen, wir haben das Projekt insofern auch aus interdisziplinärer Neugierde heraus entwickelt.

Wissenschaft hat den Ruf, sich in den Elfenbeinturm zurückzuziehen – andererseits hat die CVJM-Hochschule, als Hochschule für angewandte Wissenschaft, den Anspruch, nah an der Praxis zu sein und relevante Transfers zu leisten. Wo ordnest du, Andreas, persönlich die Arbeit der CVJM-Hochschule auf einer Skala zwischen „Elfenbeinturm“ und „praxisorientiert“ ein?
AR: Ich würde uns klar auf der praxisorientierten Seite verorten – aber ohne die wissenschaftliche Distanz aufzugeben, die gute Forschung braucht. Die Stärke der CVJM-Hochschule liegt gerade darin, Theorie und Praxis in einen echten Dialog zu bringen. Projekte wie „Dabeibleiben“ entstehen aus konkreten Fragen der kirchlichen Praxis, werden aber mit wissenschaftlicher Methodik bearbeitet und liefern am Ende auch wieder praxisrelevante Handlungsempfehlungen.
Dieser Transfer ist kein nachträgliches „Übersetzen“, sondern integraler Bestandteil des Forschungsprozesses. In unserem Forschungsprojekt arbeiten wir von Anfang an gemeinsam mit Praktikerinnen und Praktikern in den Gemeinden, werten ihre Erfahrungen wissenschaftlich aus und spiegeln die Ergebnisse wieder in die Praxis zurück – etwa in Form von Workshops oder Handlungsempfehlungen. Das ist für mich das Gegenteil des Elfenbeinturms: angewandte, partizipative Theologie, die Kirche nicht von außen beschreibt, sondern mit ihr lernt.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Die Fragen stellte Sina Müller


Die 2009 gegründete, staatlich und kirchlich anerkannte CVJM-Hochschule – YMCA University of Applied Sciences – führt in Präsenz- sowie in berufsbegleitenden und onlinebasierten Teilzeit-Studiengängen in den Bereichen Theologie und Soziale Arbeit zum Bachelor of Arts und Master of Arts. Außerdem bildet die CVJM-Hochschule Erzieher*innen und Jugendreferent*innen aus. Verschiedene Weiterbildungen ergänzen das Angebot. Die CVJM-Hochschule betreibt zusätzlich vier Forschungsinstitute (Institut für Erlebnispädagogik, Institut für Missionarische Jugendarbeit, Institut empirica für Jugendkultur und Religion sowie das Evangelische Bank Institut für Ethisches Management). Zum Wintersemester 2023/2024 sind 474 Studierende immatrikuliert. Rektor der CVJM-Hochschule ist Prof. Dr. Tobias Faix. Die Studierenden leben in einer Lern- und Lebensgemeinschaft auf dem bzw. in der Nähe des Campus.

Träger der CVJM-Hochschule ist der deutschlandweite Dachverband der Christlichen Vereine Junger Menschen (CVJM/YMCA), der CVJM Deutschland. Der CVJM/YMCA ist weltweit die größte überkonfessionelle christliche Jugendorganisation, die insgesamt 40 Millionen Menschen direkt erreicht, und weitere 25 Millionen Menschen indirekt. In Deutschland hat der CVJM 310.000 Mitglieder und regelmäßige Teilnehmende. Darüber hinaus erreicht er in seinen Programmen, Aktionen und Freizeiten jedes Jahr fast eine Million junge Menschen. Schwerpunkt des CVJM in Deutschland ist die örtliche Jugendarbeit in 1.400 Vereinen, Jugendwerken und Jugenddörfern.

Ehrenamtlicher Vorsitzender des CVJM Deutschland ist Präses Steffen Waldminghaus. Hauptamtlicher Leiter ist Generalsekretär Pfarrer Hansjörg Kopp.

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