Kassel. „Sexualität bestimmt nicht unseren Glauben!“ Mit diesen Worten eröffnete Dr. Christian Brenner, Geschäftsführer der Stiftung Christliche Medien den Fachtag „Glaube und Sexualität“, am 04. Oktober in Kassel. Die empirica Sexualitätsstudie, die in Kooperation des Forschungsinstitut empirica (angesiedelt an der CVJM-Hochschule) mit der Stiftung Christlicher Medien zwischen 2022 und 2025 durchgeführt wurde, hat über 10.600 (hoch)religiöse Christ*innen im deutschsprachigen Raum zu ihrem Verständnis von Sexualität und Glauben befragt. Das Forschungsteam, bestehend aus sechs wissenschaftlichen Mitarbeitenden sowie den Leitern Prof. Dr. Tobias Künkler und Prof. Dr. Daniel Wegner, untersuchte neben der Online-Umfrage in einer Diskursanalyse Ratgeberartikel, populäre Zeitschriftenartikel sowie Social-Media-Posts und führte Interviews. Die Studie ist damit bisher die größte und umfangreichste Studie zu diesem Thema. Und die Ergebnisse sind zum Teil durchaus überraschend: So sind Christ*innen weder homogener noch prüder als die Gesamtbevölkerung. Verheiratete sind im Schnitt sogar sexuell aktiver, Singles hingegen deutlich inaktiver. Auffällig ist die hohe sexuelle Handlungsfähigkeit: Drei Viertel der Befragten gaben an, offen über ihre Bedürfnisse zu kommunizieren, ihr Sexualleben selbstbestimmt zu gestalten und überwiegend zufrieden damit zu sein – und zwar unabhängig von der Intensität oder Ausrichtung ihres gelebten Glaubens. Deutlich wurden bei der Ergebnispräsentation jedoch auch Spannungsfelder: So lebt rund ein Drittel der eher konservativ eingestellten Christ*innen entgegen der eigenen Überzeugungen – primär bei Themen wie Selbstbefriedigung und vorehelichem Geschlechtsverkehr. Diese Inkongruenzen führen zu Schuldgefühlen, Scham und geringerer Zufriedenheit.
Die Studie bestätigte leider auch, was bereits in der FORUM-Studie sichtbar wurde: Sexuelle Gewalt wird in Kirchen und Gemeinden selten aufgedeckt und noch seltener aufgearbeitet. So berichteten 13% der Befragten dieser Studie von sexuellen Übergriffen. Drei Viertel derer, die im Kontext von Kirche und Gemeinde sexuelle Gewalt erfahren haben, mussten miterleben, wie diese Vorfälle nicht aufgearbeitet wurden. Dies hatte auch Auswirkungen auf das eigene Glaubensleben.
Miteinander im Gespräch
Nach der Vorstellung der wesentlichen Ergebnisse durch das Forschungsteam gab es für die Teilnehmenden des Fachtags die Gelegenheit, sich an verschiedenen Stationen zu unterschiedlichen Themen wie sexualisierte Gewalt, Purity Culture, Paarsexualität, sexuelle Vielfalt & Gender oder Learnings für die christliche Kinder- und Jugendarbeit auszutauschen. Ebenso konnten Rückfragen zu den Teilstudien und deren Ergebnisse gestellt werden. Den Abschluss des Fachtags bildete eine Podiumsdiskussion mit der Frauenärztin und Sexologin Dr. Ute Buth, der Pastorin und Autorin Birgit Mattausch, der Sexualberaterin und Autorin Veronika Schmidt, dem Theologen Prof. Dr. Heinzpeter Hempelmann, dem Theologen und Rektor der CVJM-Hochschule, Prof. Tobias Faix, DTh. (UNISA) sowie dem Leiter der Sexualitätsstudie, Prof. Dr. Tobias Künkler. Hierbei wurde noch einmal deutlich, wie wichtig eine grundlegende Aufklärungsarbeit hinsichtlich gelingender Sexualität in Familien und Kirchen und Gemeinden ist. Die sexualethischen Debatten seien noch immer stark von Angst, Macht und Kontrolle gesteuert und verhinderten so sowohl eine gute Auseinandersetzungskultur mit vergangenen Strukturen und Haltungen als auch einen positiven und stärkenden Blick auf Sexualität.
Die Ergebnisse der Studie sind auf der Seite www.sexualitaetsstudie.de sowohl ausführlich im Forschungsbericht dargestellt, als auch in einer kompakten und leicht verständlichen Variante.
Darüber hinaus erschienen pünktlich zum Fachtag zwei Bücher zur Studie: einmal zur Diskursanalyse und den qualitativen Interviews, die im Rahmen der Studie geführt wurden („Unsere Geschichte mit Sex. Einblicke in laute Debatten und leise Lebensgeschichten. Qualitative Ergebnisse der empirica Sexualitätsstudie“) und einmal zu den quantitativen Untersuchungsergebnissen („Sexualität und Glaube. Prägungen, Einstellungen und Lebensweisen. Quantitative Ergebnisse der empirica Sexualitätsstudie“). Beide Bücher sind im R. Brockhaus Verlag erschienen.
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Hintergrund:
Über die empirica Sexualitätsstudie:
Die „empirica Sexualitätsstudie“ wurde durchgeführt vom Forschungsinstitut empirica für Jugend, Kultur & Religion an der CVJM-Hochschule Kassel. Finanziert wurde das mehrjährige Projekt durch die Stiftung Christliche Medien (SCM). In einer ersten Teilstudie wurden mehrere christliche Ratgeberbücher (1970er bis heute), Zeitschriftenartikel der letzten zehn Jahre (AUFATMEN, Family, DRAN, Teensmag u.a.) und aktuelle Social-Media-Posts (Analyse von christlichen Influencer*innen auf Instagram) analysiert. Eine zweite Teilstudie beinhaltete die Analyse biografischer Interviews, die dritte Teilstudie bestand aus einer quantitativen Onlinebefragung mit 10.608 Teilnehmenden.
Ziel der Studie war es, herauszufinden, Was Christ*innen über Sex denken und wie sie ihre Sexualität wirklich (er)leben. Die Studie möchte helfen, Sexualität in Kirchen und Gemeinden differenzierter, offener und lebensnäher ins Gespräch zu bringen.
Die 2009 gegründete, staatlich und kirchlich anerkannte CVJM-Hochschule – YMCA University of Applied Sciences – führt in Präsenz- sowie in berufsbegleitenden und onlinebasierten Teilzeit-Studiengängen in den Bereichen Theologie und Soziale Arbeit zum Bachelor of Arts und Master of Arts. Außerdem bildet die CVJM-Hochschule Erzieher*innen und Jugendreferent*innen aus. Verschiedene Weiterbildungen ergänzen das Angebot. Die CVJM-Hochschule betreibt zusätzlich vier Forschungsinstitute (Institut für Erlebnispädagogik, Institut für Missionarische Jugendarbeit, Institut empirica für Jugendkultur und Religion sowie das Evangelische Bank Institut für Ethisches Management). Zum Wintersemester 2023/2024 sind 474 Studierende immatrikuliert. Rektor der CVJM-Hochschule ist Prof. Dr. Tobias Faix. Die Studierenden leben in einer Lern- und Lebensgemeinschaft auf dem bzw. in der Nähe des Campus.
Träger der CVJM-Hochschule ist der deutschlandweite Dachverband der Christlichen Vereine Junger Menschen (CVJM/YMCA), der CVJM Deutschland. Der CVJM/YMCA ist weltweit die größte überkonfessionelle christliche Jugendorganisation, die insgesamt 40 Millionen Menschen direkt erreicht, und weitere 25 Millionen Menschen indirekt. In Deutschland hat der CVJM 310.000 Mitglieder und regelmäßige Teilnehmende. Darüber hinaus erreicht er in seinen Programmen, Aktionen und Freizeiten jedes Jahr fast eine Million junge Menschen. Schwerpunkt des CVJM in Deutschland ist die örtliche Jugendarbeit in 1.400 Vereinen, Jugendwerken und Jugenddörfern.
Ehrenamtlicher Vorsitzender des CVJM Deutschland ist Präses Steffen Waldminghaus. Hauptamtlicher Leiter ist Generalsekretär Pfarrer Hansjörg Kopp.