Wie reden Christ*innen über Sex – oder eben nicht? Zwischen Tabu und Dauerbrenner, zwischen Schweigen und Schlagzeilen forschte das Forschungsinstitut empirica der CVJM-Hochschule darüber, wie Christ*innen über Sexualität denken, sprechen und wie das ihren Glauben prägt. Im Interview geben Prof. Dr. Tobias Künkler und Dr. Daniel Wegner erste Einblicke in die Studie und laden zum großen Fachtag nach Kassel ein, auf dem die Ergebnisse der empirica Sexualitätsstudie erstmalig vorgestellt werden.
Die einen sagen: Es wird viel zu viel über Sex geredet. Die anderen sagen: Sexualität ist nach wie vor ein großes Tabu-Thema. Wie viel habt ihr in den letzten Jahren über Sex geredet und ist es in euren Augen eher ein Tabu-Thema oder too much?
Tobias Künkler: Ich habe in den letzten Jahren vor allem zu viele Mails geschrieben, in denen das Wort Sex kam und die im Spamfilter landeten. (lacht) Ich würde sagen klar beides. Die Frage ist: Wird über das Richtige gesprochen? Schon in der empirica Singlestudie kam ja raus, dass viele christliche Singles gesagt haben: Wenn in unseren christlichen Kreisen über Sexualität gesprochen wird, dann kommen wir da quasi nicht vor, weil dann geht es entweder um „Kein Sex vor der Ehe“ oder darum, wie Sex in der Ehe gelingt. Uns wird vermittelt, wir müssten quasi asexuelle Wesen sein.
Daniel Wegner: Ich habe in den letzten Jahren viel über Sex geredet und hab dabei eher den Eindruck gewonnen, dass es ein Tabu-Thema ist. Gleichzeitig wünschen sich viele Menschen, offen und persönlich über Sex – gerade auch über Struggles – zu reden.
Seit 2022 forscht ihr zum Thema Sexualität und Christen. Warum ist das ein wichtiges Forschungsthema – für Christen?
Tobias Künkler: Weil Sexualität und Identität in unseren heutigen Zeiten so eng verknüpft ist, ist Sexualität wie der Glaube eine existenzielles Thema. Dabei geht es nicht nur um persönliche Identitäten, sondern auch um die von ganzen Gemeinschaften. Leider sind manche sexualethische Positionen zu einer Art Identitätsmarker geworden, die die Grenze zwischen vermeintlich richtigen und nicht ganz so richtigen Christ*innen markieren.
Wie war die Forschung angelegt?
Tobias Künkler: Wir haben drei Teilstudien gemacht. Eine große quantitative Onlineumfrage mit über 10.000 Teilnehmenden, eine qualitative Interviewstudie und mehrere Diskursanalysen. In letzterer haben wir christliche Ratgeberbücher zu Sexualität aus den letzten Jahrzehnten, christliche Zeitschriftenartikel aus den letzten 10 Jahren und aktuelle Social-Media-Accounts untersucht – mit Blick darauf, wie dort Sexualität thematisiert wird und wie auch nicht.
Daniel Wegner: Dabei waren für mich die Interviews mit 14 jungen Menschen besonders spannend. Wie unterschiedlich und zugleich ähnlich die Erfahrungen unserer Interview-Partner*innen gerade auch in ihren christlichen Umfeldern – Familie, Kirche, Jugendgruppen … – waren, ist super interessant.
Am 04.10.25 werden die Forschungsergebnisse in Kassel vorgestellt. An wen richtet sich der Fachtag?
Tobias Künkler: An alle Haupt- und Ehrenamtlichen in CVJM, Kirchen und Freikirchen, die sich dafür interessieren, wie heute Glaube und Sexualität zusammenhängen und welche Konsequenzen sich für die Praxis daraus ergeben. Und die Lust haben, dabei vielen spannenden Menschen zu begegnen und über die Themen im Austausch zu sein.
Ihr dürft noch nichts verraten, aber vielleicht mal so viel: Haben euch die Ergebnisse überrascht?
Tobias Künkler: Mich haben viele Ergebnisse überrascht. Manchmal ist ja auch nicht nur interessant, welche Zusammenhänge man erkennen kann, sondern auch welche nicht. Oder nicht nur zu analysieren, worüber wie gesprochen wird, sondern auch worüber nicht. Ich belasse es mal bei dieser Andeutung …
Daniel Wegner: So vieles hat mich überrascht – positiv wie negativ, faszinierend wie erschreckend. Wenn ich jetzt ein Ergebnis rauspicken würde … Puh, geht nicht. Einfach zum Fachtag kommen. (grinst)
Am 04.10.25 werden die Ergebnisse der empirica Sexualitätsstudie allen Interessierten vorgestellt und diskutiert. Im Eintrittspreis enthalten sind zudem die zwei Fachbücher, die kurz vor dem Fachtag bei SCM R. Brockhaus erscheinen. Die Stiftung christliche Medien (SCM) hat die Forschung seit 2022 auch unterstützt und ist Kooperationspartner. Für den Fachtag engagiert sich zudem der CVJM Deutschland.
Weitere Informationen zum Fachtag sowie die Anmeldemöglichkeit finden sich unter www.sexualitaetsstudie.de.
Die 2009 gegründete, staatlich und kirchlich anerkannte CVJM-Hochschule – YMCA University of Applied Sciences – führt in Präsenz- sowie in berufsbegleitenden und onlinebasierten Teilzeit-Studiengängen in den Bereichen Theologie und Soziale Arbeit zum Bachelor of Arts und Master of Arts. Außerdem bildet die CVJM-Hochschule Erzieher*innen und Jugendreferent*innen aus. Verschiedene Weiterbildungen ergänzen das Angebot. Die CVJM-Hochschule betreibt zusätzlich vier Forschungsinstitute (Institut für Erlebnispädagogik, Institut für Missionarische Jugendarbeit, Institut empirica für Jugendkultur und Religion sowie das Evangelische Bank Institut für Ethisches Management). Zum Wintersemester 2023/2024 sind 474 Studierende immatrikuliert. Rektor der CVJM-Hochschule ist Prof. Dr. Tobias Faix. Die Studierenden leben in einer Lern- und Lebensgemeinschaft auf dem bzw. in der Nähe des Campus.
Träger der CVJM-Hochschule ist der deutschlandweite Dachverband der Christlichen Vereine Junger Menschen (CVJM/YMCA), der CVJM Deutschland. Der CVJM/YMCA ist weltweit die größte überkonfessionelle christliche Jugendorganisation, die insgesamt 40 Millionen Menschen direkt erreicht, und weitere 25 Millionen Menschen indirekt. In Deutschland hat der CVJM 310.000 Mitglieder und regelmäßige Teilnehmende. Darüber hinaus erreicht er in seinen Programmen, Aktionen und Freizeiten jedes Jahr fast eine Million junge Menschen. Schwerpunkt des CVJM in Deutschland ist die örtliche Jugendarbeit in 1.400 Vereinen, Jugendwerken und Jugenddörfern.
Ehrenamtlicher Vorsitzender des CVJM Deutschland ist Präses Steffen Waldminghaus. Hauptamtlicher Leiter ist Generalsekretär Pfarrer Hansjörg Kopp.