Interview mit Dr. Raban Fuhrmann, Dozent im Masterstudiengang Transformationsstudien, Politologe, Gründer der Akademie Lernende Demokratie
Herr Dr. Fuhrmann, Sie sind Demokratieentwickler. Ist die Demokratie wirklich die beste Politik- und Gesellschaftsform, die es gibt?
Zunächst bin ich Christ. Das bedeutet für mich, dass die beste aller Regierungsformen das Reich Gottes ist. Jesus hat vor etwa 2000 Jahren mit Prinzipien wie der Feindesliebe zentrale Maßstäbe gesetzt. Doch wie sich diese heute, in unserer Bundesrepublik Deutschland, konkret umsetzen lassen, hat er uns überlassen.
Als Demokratieentwickler beschäftige ich mich mit der Frage, wie sich das Liebesgebot in politische Prozesse übersetzen lässt. Viele denken dabei zuerst an inhaltliche Fragen – etwa zu Migration, Umwelt oder Sozialem. Mein Ansatz ist jedoch prozedural: Ich frage nach dem „Wie“. Wie binden wir Betroffene ein? Wie ermächtigen wir alle zur Mitgestaltung? Wie erkennen wir gemeinsam die Herausforderungen, die wir bewältigen müssen, um uns vor Gott und unseren Mitmenschen verantworten zu können? Gute Demokratie bedeutet gute Partizipation. Demokratie ist daher nicht „die beste“ Regierungsform, aber sie hat das größte Potenzial. Sie ist die einzige, die darauf ausgelegt ist, sich selbst zu verbessern – eine Form der kollektiven Lernfähigkeit.
Inwiefern sind Wahlen ein wichtiger Bestandteil der Demokratie?
Wir „geben unsere Stimme ab“ – so sagt man – wenn wir wählen gehen. Diese Formulierung ist irreführend und zugleich teilweise zutreffend. Denn eigentlich ist unsere Stimme mehr als nur ein Kreuz auf dem Wahlzettel alle vier Jahre. Wir behalten weiterhin unsere Stimme – die Fähigkeit, uns zu artikulieren, uns zu melden und gehört zu werden. Doch im Wahlprozess selbst wird dies kaum berücksichtigt.
Wie soll ich am Wahltag wissen, wem ich meine Stimme anvertraue, wenn ich nicht absehen kann, welche Herausforderungen in den kommenden Jahren auf uns zukommen? Meist kennen wir die Menschen, die für uns entscheiden werden, nicht einmal persönlich.
In einer repräsentativen Demokratie übertragen wir unsere Stimme an eine Partei, nicht primär an eine einzelne Person. Zwischen den Wahlen sind wir politisch gesehen weitgehend unmündig. Zwar können wir unsere Meinung äußern, aber es gibt keinen formellen Anspruch darauf, gehört zu werden.
Eigentlich bedeutet Demokratie „Herrschaft des Volkes“. Doch in der aktuellen Praxis haben wir zwischen den Wahlen wenig direkten Einfluss. Als Grenzbewohner zur Schweiz fasziniert mich das dortige Modell: Die Möglichkeit, auch zwischen den Wahlen über zentrale Themen direkt abzustimmen, erscheint mir sinnvoller. Ich möchte selbst entscheiden, wann ich mitbestimmen und wann ich mich vertreten lassen will. Besonders wichtig ist mir, dass wir als Gesellschaft die Spielregeln der Demokratie selbst mitgestalten können. Daher arbeite ich an einem Meta-Verfahren, einer sogenannten Rekonstituante, mit der wir unser demokratisches Betriebssystem – unser Grundgesetz – regelmäßig aktualisieren könnten.
Kurz gesagt: Wahlen sind wichtig, aber sie reichen nicht aus. Sie sind ein sichtbares Element der Demokratie – doch der eigentliche politische Prozess geschieht zwischen den Wahlen: in Diskussionen, im Engagement und im gesellschaftlichen Austausch.
Ist es wirklich so wichtig, dass jede*r einzelne wählen geht?
Ja, jede Stimme zählt – nicht nur mathematisch, sondern auch symbolisch und gesellschaftlich. Ein Professor für Wirtschaftspolitik sagte einmal, dass der „Verschleiß der Schuhsohlen“ auf dem Weg zur Wahl größer sei als der direkte Einfluss einer einzelnen Stimme. Das ist eine rein ökonomische Betrachtung – und ein Denkfehler. Warum ist jede Stimme wichtig?
- Demokratie ist eine kollektive Verantwortung
Wenn viele denken „Meine Stimme macht keinen Unterschied“, dann wird diese Einstellung zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Je mehr Menschen wählen, desto repräsentativer das Ergebnis. - Wählen ist ein Zeichen des Engagements
Es zeigt, dass wir uns für unsere Gesellschaft interessieren. Wählen ist ein Bekenntnis zur Demokratie. - Die symbolische Bedeutung von Wahlen
Eine Stimme ist mehr als ein Kreuz – sie ist ein Zeichen der Zugehörigkeit und Mitbestimmung. (Ja noch mehr: Ein Kreuz kann auch mehr bedeuten: es ist das Zeichen der Hoffnung auf Erneuerung :-)) - Die Macht kleiner Veränderungen
Auch wenn eine einzelne Stimme selten den Wahlausgang bestimmt, können knappe Ergebnisse große Konsequenzen haben. - Langfristige Wirkung
Selbst wenn die eigene Wunschpartei nicht gewinnt, beeinflussen Wahlergebnisse die politische Agenda der nächsten Jahre.
Soll man bei der Wahl eher intuitiv oder strategisch wählen?
Die Antwort: Beides! Strategisches Wählen bedeutet, auch Koalitionsmöglichkeiten und realistische Machtverhältnisse im Blick zu behalten. Intuitives Wählen hingegen folgt den eigenen Überzeugungen – unabhängig von Wahrscheinlichkeiten. Die beste Strategie: Eine Mischung aus beiden Ansätzen. Eine informierte, reflektierte Entscheidung, die sowohl den eigenen Werten als auch den politischen Realitäten Rechnung trägt. Letztlich entscheiden wir zu 80 % eh „aus dem Bauch“. Es gibt Intuitionsforschung, die sogar nahelegt, dass dies durchaus rational und zu den besseren Entscheidungen führt. Denn letztlich verarbeiten wir dabei unterbewusst und mit allen Sinnen, was wir so wahr- und aufnehmen. Also viel mehr als mit unseren Gedanken alleine möglich. Gerade als Gläubige sollen wir ja lernen auf Gottes Geist zu hören. Beten und in sich gehen hilft. Entscheiden sollten wir aus dem inneren Frieden heraus. D.h. Wollen (und können) wir dies verantworten nach innen und außen?
Wie findet man die „richtige“ Partei?
Es gibt keine perfekte Partei – aber eine verantwortliche Wahlentscheidung ist möglich.
- Eigene Werte klären: Welche Themen sind mir am wichtigsten? Welche „roten Linien“ habe ich?
- Wahlprogramme und Glaubwürdigkeit prüfen: Nicht nur Versprechen zählen, sondern auch das bisherige politische Handeln.
- Kandidaten beobachten: Wer wirkt glaubwürdig? Wer gesteht Fehler ein?
- Diskussionen führen: Gerade Gespräche mit Andersdenkenden sind wertvoll.
- Langfristige Perspektive einnehmen: Welche Partei kann nachhaltige Lösungen bieten?
Gerade wird immer wieder mal betont, dass diese Entscheidung oder jene Partei demokratisch gewählt wurden und man sie deshalb hinnehmen müsse. Was muss eine Demokratie alles aushalten?
Eine Demokratie muss viel aushalten – und genau das macht sie stark. Sie ist kein Wohlfühlverein, sondern ein ständiger Aushandlungsprozess darüber, wie wir zusammenleben wollen.Demokratische Systeme basieren auf Meinungsvielfalt und offenen Debatten. Das bedeutet, dass es oft unbequem wird. Demokratie hält es aus, wenn Menschen unterschiedliche Ansichten vertreten, wenn Streit entsteht oder Entscheidungen nicht jedem gefallen. Sie hält sogar Wut und Frustration aus – solange diese innerhalb fairer Verfahren geäußert werden.
Allerdings gibt es Grenzen: Demokratie darf sich nicht von denen zerstören lassen, die sie abschaffen wollen. Hier greift das Konzept der „wehrhaften Demokratie“. Grundrechte sind keine Verhandlungsmasse – sie sind das Fundament, auf dem unsere Gesellschaft steht. Demokratie ist keine Einbahnstraße: Sie gibt uns die Freiheit, mitzureden, aber erwartet zugleich, dass wir diese Freiheit nutzen – nicht nur am Wahltag, sondern kontinuierlich. Denn, wie es so treffend heißt: „Wenn alle so wären, wie wir es uns wünschen, bräuchte es keine Demokratie.“
An dieser Stelle möchte ich noch eine Einladung zur Kokreation von Demokratie aussprechen:
Als Demokratieentwickler plädiere ich für eine stärkere Einbindung direkter und deliberativer Demokratie. Modelle wie in der Schweiz könnten unser System entlasten und zugleich stärken. Da dies aktuell nicht zur Wahl steht, empfehle ich eine Doppelstrategie:
- Geht wählen – wählt mit Grundvertrauen.
- Engagiert euch für eine Weiterentwicklung der Demokratie.
Unterstützt Initiativen wie Abstimmung21 oder Mehr Demokratie. Und für alle, die tiefer einsteigen wollen: Einladung zur 18. Loccumer Procedere-Werkstatttagung „Demokratie next level“ (3.–5. April 2025 in der Evangelischen Akademie Loccum). Mehr Infos hier.